LESEPROBE aus dem Erzählband: "Der Bulldoggen-Mann", erscheint in Kürze bei BoD
Die Brücke
Sie steht auf der Brücke und schaut in die Tiefe. Das schwarze, gurgelnde Wasser unter dem sternenlosen Nachthimmel tönt wie eine ständige Wiederholung und Bestätigung ihres inneren Chaos. Alles vorbei, alles schwarz, alles aussichtslos.
Es wären nur wenige Bewegungen nötig: ein Griff zum Träger, ein Schritt auf das Geländer – und dann einfach fallen lassen. Ein kurzer, freier Flug und dann Versinken. Alles wird weggespült, die Verzweiflung, die Wut, die Enttäuschung. Kein Streit, keine Tränen, keine Einsamkeit. Der Körper wird eins werden mit der Natur und die Seele löst sich auf in Nichts.
Sie greift an das Geländer. Da hört sie eine ruhige Stimme „Spring nicht.“ Sie dreht sich um. Da ist niemand. Alle Welt schläft. „Geh!“ sagt die Stimme. Doch wohin sollte sie gehen? Sie hat ja kein Zuhause mehr. Sie hat die Stimme im Ohr, ruhig, selbstverständlich, vertrauenerweckend. Sie zögert. Sie spürt, wie ihr Griff lockerer wird und ihre Füße gehen wollen. Sie überlässt sich dem Verwundern. Ihre Füße beginnen tastend zu laufen, ohne dass sie weiß wohin.
Sie läuft unaufhörlich durch Gegenden, die sie nicht erkennt. Fremde Straßen, fremde Häuser, leere Treppen.
Irgendwann tauchen Erinnerungen auf. Hat sie nicht dieses Denkmal schon gesehen von dem stolzen Feldherrn, und gelacht über seine Pose? Hat sie nicht an diesem Bachlauf vor Urzeiten ein Papierboot ausgesetzt und einen Damm aus Kieseln gebaut? Diese alte Linde, hat sie sie nicht mit ihrer besten Freundin umarmt und sie haben sich in ihrem Schatten ewige Treue geschworen?
Ach, ewige Treue! Sie haben sie beide nicht bewahrt und haben sich aus den Augen verloren. Diese Erkenntnis droht sofort wie eine schwarze Unwetterwolke über sie zu fallen.
Doch die Füße gehen ungebremst weiter. Straßen entlang, die sie bewusst nicht erinnert, aber an denen hier und da unklare Gefühle sie anspringen aus einem Hauseingang, einem Fenster, einer Kreuzung. Mal ist es Furcht, mal frohe Erwartung, mal Lachen und mal Scham. Für einen Moment blitzen sie auf ohne Bilder mitzuschicken. Was war da? Sie erinnert sich nicht.
Ein Haus taucht auf, dessen Haustür sie magisch anzieht. Dabei ist es keine besonders originelle Tür. Sie geht näher. Es ist das Holz mit seiner Maserung, die Gefache und das ovale bleigefasste Fenster im oberen Teil, die sie unwiderstehlich anlocken. Sie fährt mit dem Finger die Holzflächen nach und eine Welle von Wärme ergreift sie. Sie zieht die Hand zurück und schaut auf die Liste der Namen an den Klingelknöpfen.
„Seidenblum“ steht auf einem Schild, das sie wie ein Blitz trifft. Frau Seidenblum, wie oft hat sie als Kind diesen Namen geflüstert, ihn im Mund bewegt wie ein Stück Nougatschokolade. Mit diesem Namen konnte sie sich in den Schlaf wiegen. Dieser Name war ihr trotziger Halt, wenn sie sich als Kind unverstanden und hilflos fühlte.
Frau Seidenblum mit den schwarzgelockten Haaren und den dunkel glänzenden Augen, die Trauer und Wärme ausstrahlten und Vertrauen erweckten. Sie waren sich auf einer Bank im Park begegnet und waren ins Gespräch gekommen über schlechte Noten und die Angst, nach Hause zu gehen.
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